Es ist der 13.02.2011 - nach einer Woche Zwischenseminar in Odessa, der Perle am Schwarzen Meer, geht es am frühen Nachmittag in das etwa 900 km entfernte Lugansk zurück. Weil die Reise im Großraum wesentlich interessanter ist als in den übrigen, höheren Wagenklassen, entschied ich mich bei der Buchung für die so genannte "Platzkarte".
Das Bett über mir bezieht eine junge Frau, die mich - in ihrer Lektüre vertieft - zunächst nicht weiter beachtet. Erst später erfahre ich, dass sie mich für einen Studenten aus Odessa hält, der die Heimreise zu den Eltern angetreten hat.
Meine kurzen Wortwechsel mit den übrigen Fahrgästen offenbaren jedoch zwangsläufig meine nicht ukrainische Herkunft. Und weil man auf den oberen Betten unmöglich sitzen kann, teilen wir uns eine Pritsche und kommen ins Gespräch. Bis wir nach einigen Stunden angeregter Unterhaltung um Mitternacht entscheiden, schlafen zu gehen, erfahre ich von ihrer Kindheit in der Donbas-Region, der Arbeit ihres Vaters in den Kohleminen des Donbas' und der Arbeitslosigkeit, verursacht durch die Schließung vieler Minen. Sie erzählt vom Umzug nach Odessa, Studium, Arbeit und Leben in der Stadt, von Ihrem Mann, der jedoch die längste Zeit des Jahres als Seemann auf einem Frachtschiff verbringt.
Schnell fühlt es sich an, als würden wir uns bereits eine ganze Weile kennen. Selten habe ich einen so aufgeschlossenen, ungezwungen und interessierten Menschen kennengelernt. Noch jetzt sehe ich ihr natürliches Lachen vor mir; eher ein Lächeln, das zum Lachen tendiert; mit einem unbeschreiblich bezaubernden Gesichtsausdruck, der an den von Julia Roberts in "Pretty Woman" erinnert. Weil sie bereits um 06:30 Uhr den Zug verlassen wird, verabschieden wir uns gegen Mitternacht.
Ich liege noch sehr lange wach. Immer wieder hält der Zug für ein paar Minuten und die Lichter des Bahnhofs erleuchten den Wagon. Dann fährt der Zug weiter; nur noch das schummrige Oberlicht im Gang und das Schnarchen einiger Fahrgäste beherrschen die Atmosphäre. Die Kühle der Nacht zieht durch die Ritzen des Fensters und hält mich wach; immernoch ist mir das so bezaubernde Lächeln in Erinnerung. Ich stehe auf, laufe zwei Mal hin und her. Ich beschließe, ein paar Zeilen als Abschied zu schreiben und versuche zu schlafen.
Als es am Morgen langsam hell wird, werde ich vom Ruckeln durch das Wechseln der Gleise geweckt. Der Zug hält im Bahnhof und unter den mich musternden Blicken einer der beiden Damen die bereits gestern das Gespräch mit interessierten Blicken verfolgt haben, setze ich mich langsam im Bett auf. Jetzt stelle ich fest, dass bereits ihr Bettzeug zusammengeräumt ist und die Schuhe verschwunden sind - ich schaue auf die Uhr: 06:30.
Als ahnte die ältere Dame, die gerade meine Bewegungen verfolgt hatte, meine Frage, bleibt kaum Zeit sie auszusprechen. Mit einer nicht zu beschreibenden Schwere und Traurigkeit, die ihren Gesichtsausdruck bestimmt und auf ihrer Stimme liegt antwortet sie: "Ja, sie ist gerade ausgestiegen". Und nun, nachdem ich aufgestanden bin, bemerkt mich auch die zweite der beiden interessierten Damen und sagt: "Sie ist ausgestiegen". Ich erwidere ihren ruhigen, abwartenden Blick ebenso theatralisch mit einem tiefen Atmen, schließe kurz die Augen und füge ein leichtes Nicken hinzu.
Als ich meine Sachen in Ordnung gebracht habe, ergibt sich ein Gespräch mit den beiden Frauen. Eine der Beiden schenkt mir zum Frühstück eine Schlackwurst und weil ich kein Brot bei mir habe, gibt mir die andere ihres dazu. Ich esse, wir plaudern ein wenig und bald verabschieden sie sich. Der Frau, die mir die Schlackwurst geschenkt hat, trage ich ihre vier Reisetaschen, die bis zum Rand damit gefüllt sind, zum Ausgang. Jede geschätzte 20 Kilo schwer - ich jedenfalls habe große Mühe, die Taschen zu bewegen. Der Verkauf selbst zubereiteter Lebensmittel ist eine weit verbreitete Form des Gelderwerbs. Diejenigen, die keine Arbeit haben, verdienen ihren Lebensunterhalt auf dem Markt oder verkaufen ihre Produkte wo sich an anderer Stelle die Gelegenheit bietet. Auch für junge Menschen ist es schwer, den Lebensunterhalt zu besorgen. Nicht selten verlassen die Männer, auf der Suche nach einer lohnenden Beschäftigung, das Land und so auch ihre Familie, denn in der Ukraine ist die Arbeit rar und schlecht bezahlt.
Nach 21 Stunden Zugfahrt erreiche ich gegen Mittag den Bahnhof Lugansk. Als ich aus dem Zug steige, ist es bei -12°C dicht bewölkt und ich denke zurück an Odessa: Bis zu 8°C, Sonne und Meer.
Was für eine wunderschöne und lebendige Stadt; das Stadtbild prägen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, romantische Cafés und Restaurants, die die Einflüsse und Anwesenheit der unterschiedlichen Kulturen und Nationen am eindringlichsten offenbaren. Überhaupt scheinen die Einwohner der Stadt tendenziell offener, als jene, die man im Osten des Landes trifft.
Wer Odessa besucht, nimmt zwei Sehenswürdigkeiten auf jeden Fall mit: Die weltberühmte Potjomkinsche Treppe als Schauplatz des Generalstreiks der Einwohner zur Russischen Revolution und der Meuterei auf der Potjomkin sowie das Opernhaus. Für letzteres sollte man sich unbedingt Karten besorgen: Wir haben uns den "Nussknacker" angesehen und ich hätte nie von einer so schönen, farbenfrohen und romantischen Aufführung auch nur zu träumen gewagt.
Wer noch ein paar Eindrücke der Stadt auf sich wirken lassen möchte, ist herzlich eingeladen, sich in der Bildergalerie umzusehen.