Mittwoch, 16. Februar 2011

Perle am Schwarzen Meer

Es ist der 13.02.2011 - nach einer Woche Zwischenseminar in Odessa, der Perle am Schwarzen Meer, geht es am frühen Nachmittag in das etwa 900 km entfernte Lugansk zurück. Weil die Reise im Großraum wesentlich interessanter ist als in den übrigen, höheren Wagenklassen, entschied ich mich bei der Buchung für die so genannte "Platzkarte".




Das Bett über mir bezieht eine junge Frau, die mich - in ihrer Lektüre vertieft -  zunächst nicht weiter beachtet. Erst später erfahre ich, dass sie mich für einen Studenten aus Odessa hält, der die Heimreise zu den Eltern angetreten hat.

Meine kurzen Wortwechsel mit den übrigen Fahrgästen offenbaren jedoch zwangsläufig meine nicht ukrainische Herkunft. Und weil man auf den oberen Betten unmöglich sitzen kann, teilen wir uns eine Pritsche und kommen ins Gespräch. Bis wir nach einigen Stunden angeregter Unterhaltung um Mitternacht entscheiden, schlafen zu gehen, erfahre ich von ihrer Kindheit in der Donbas-Region, der Arbeit ihres Vaters in den Kohleminen des Donbas' und der Arbeitslosigkeit, verursacht durch die Schließung vieler Minen. Sie erzählt vom Umzug nach Odessa, Studium, Arbeit und Leben in der Stadt, von Ihrem Mann, der jedoch die längste Zeit des Jahres als Seemann auf einem Frachtschiff verbringt.

Schnell fühlt es sich an, als würden wir uns bereits eine ganze Weile kennen. Selten habe ich einen so aufgeschlossenen, ungezwungen und interessierten Menschen kennengelernt. Noch jetzt sehe ich ihr natürliches Lachen vor mir; eher ein Lächeln, das zum Lachen tendiert; mit einem unbeschreiblich bezaubernden Gesichtsausdruck, der an den von Julia Roberts in "Pretty Woman" erinnert. Weil sie bereits um 06:30 Uhr den Zug verlassen wird, verabschieden wir uns gegen Mitternacht.

Ich liege noch sehr lange wach. Immer wieder hält der Zug für ein paar Minuten und die Lichter des Bahnhofs erleuchten den Wagon. Dann fährt der Zug weiter; nur noch das schummrige Oberlicht im Gang und das Schnarchen einiger Fahrgäste beherrschen die Atmosphäre. Die Kühle der Nacht zieht durch die Ritzen des Fensters und hält mich wach; immernoch ist mir das so bezaubernde Lächeln in Erinnerung. Ich stehe auf, laufe zwei Mal hin und her. Ich beschließe, ein paar Zeilen als Abschied zu schreiben und versuche zu schlafen.

Als es am Morgen langsam hell wird, werde ich vom Ruckeln durch das Wechseln der Gleise geweckt. Der Zug hält im Bahnhof und unter den mich musternden Blicken einer der beiden Damen die bereits gestern das Gespräch mit interessierten Blicken verfolgt haben, setze ich mich langsam im Bett auf. Jetzt stelle ich fest, dass bereits ihr Bettzeug zusammengeräumt ist und die Schuhe verschwunden sind - ich schaue auf die Uhr: 06:30.

Als ahnte die ältere Dame, die gerade meine Bewegungen verfolgt hatte, meine Frage, bleibt kaum Zeit sie auszusprechen. Mit einer nicht zu beschreibenden Schwere und Traurigkeit, die ihren Gesichtsausdruck bestimmt und auf ihrer Stimme liegt antwortet sie: "Ja, sie ist gerade ausgestiegen". Und nun, nachdem ich aufgestanden bin, bemerkt mich auch die zweite der beiden interessierten Damen und sagt: "Sie ist ausgestiegen". Ich erwidere ihren ruhigen, abwartenden Blick ebenso theatralisch mit einem tiefen Atmen, schließe kurz die Augen und füge ein leichtes Nicken hinzu.

Als ich meine Sachen in Ordnung gebracht habe, ergibt sich ein Gespräch mit den beiden Frauen. Eine der Beiden schenkt mir zum Frühstück eine Schlackwurst und weil ich kein Brot bei mir habe, gibt mir die andere ihres dazu. Ich esse, wir plaudern ein wenig und bald verabschieden sie sich. Der Frau, die mir die Schlackwurst geschenkt hat, trage ich ihre vier Reisetaschen, die bis zum Rand damit gefüllt sind, zum Ausgang. Jede geschätzte 20 Kilo schwer - ich jedenfalls habe große Mühe, die Taschen zu bewegen. Der Verkauf selbst zubereiteter Lebensmittel ist eine weit verbreitete Form des Gelderwerbs. Diejenigen, die keine Arbeit haben, verdienen ihren Lebensunterhalt auf dem Markt oder verkaufen ihre Produkte wo sich an anderer Stelle die Gelegenheit bietet. Auch für junge Menschen ist es schwer, den Lebensunterhalt zu besorgen. Nicht selten verlassen die Männer, auf der Suche nach einer lohnenden Beschäftigung, das Land und so auch ihre Familie, denn in der Ukraine ist die Arbeit rar und schlecht bezahlt.

Nach 21 Stunden Zugfahrt erreiche ich gegen Mittag den Bahnhof Lugansk. Als ich aus dem Zug steige, ist es bei -12°C dicht bewölkt und ich denke zurück an Odessa: Bis zu 8°C, Sonne und Meer.

Was für eine wunderschöne und lebendige Stadt; das Stadtbild prägen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, romantische Cafés und Restaurants, die die Einflüsse und Anwesenheit der unterschiedlichen Kulturen und Nationen am eindringlichsten offenbaren. Überhaupt scheinen die Einwohner der Stadt tendenziell offener, als jene, die man im Osten des Landes trifft.

Wer Odessa besucht, nimmt zwei Sehenswürdigkeiten auf jeden Fall mit: Die weltberühmte Potjomkinsche Treppe als Schauplatz des Generalstreiks der Einwohner zur Russischen Revolution und der Meuterei auf der Potjomkin sowie das Opernhaus. Für letzteres sollte man sich unbedingt Karten besorgen: Wir haben uns den "Nussknacker" angesehen und ich hätte nie von einer so schönen, farbenfrohen und romantischen Aufführung auch nur zu träumen gewagt.


Wer noch ein paar Eindrücke der Stadt auf sich wirken lassen möchte, ist herzlich eingeladen, sich in der Bildergalerie umzusehen.

Dienstag, 4. Januar 2011

„Zweimal Kiew und zurück bitte.“

In Deutschland ist man wohl wieder zum Alltag übergegangen: Der Weihnachtsstress ist vorüber, die Süßigkeiten sind bald aufgegessen und vielleicht sind sogar schon die ersten Weihnachtsbäume aus den Wohnzimmern verschwunden. Hier in der Ukraine hat man von alldem nichts mitbekommen. Dem Julianischen Kalender ist es zuzuschreiben, dass erst in der letzten Woche die Weihnachtsbäume aufgestellt wurden und sich die Weihnachtsstimmung durchsetzen kann.

Und weil eben die Tage, die in Deutschland ausgiebig mit den Lieben verbracht und für die gemeinsame Zeit und gemeinsames Essen genutzt werden, sich hier nicht von anderen im Jahr unterscheiden, war der Entschluss, Lugansk für dieses besondere Wochenende zu verlassen und die Hauptstadt der Ukraine zu besuchen, schnell gefasst.

Die Fahrkarten für eine solche Reise mit dem Zug müssen bereits zwei Wochen vor Fahrtantritt direkt am Bahnhof gekauft werden. Tatsächlich werden dann die Karten knapp: So gab es auch nur für die Hinfahrt noch Fahrkarten im Kupé, einem Vier-Personen-Schlafabteil. Für die Rückfahrt waren nur noch Karten für den Großraum verfügbar.

Es ist Heiligabend 16:30 Uhr: Ankunft am Bahnhof Lugansk - der Schnellzug „Lugansk – Kiew“ steht auf Gleis 1 bereit. Im letzten Wagon befindet sich das gebuchte Abteil – ein Kupé (russ.:  купе) – ein Abteil mit Betten für vier Personen. Bettwäsche und ein Handtuch liegen in Kunststofftüten verschweißt auf den Pritschen. Nachdem die Betten bezogen sind, genießt man den ersten Tee, verbringt die Zeit mit gemeinsamem Essen, Erzählen und Lesen. Immerhin wird der Zug erst 16 Stunden später – um 08:50 Uhr – den Bahnhof Kiew erreichen.
Da sich die beiden Damen, die die unteren Betten bezogen haben, bereits gegen 20:00 Uhr schlafen legen, beschließe ich, mich auch fertig zu machen und dann noch etwas zu lesen. Auf dem Weg zur Toilette teilt mir ein im Flur stehender Herr mit, dass die Toiletten erst nach dem Passieren der zwei folgenden Bahnhöfe wieder geöffnet werden. So bestätigt sich meine Vermutung: Die Toiletten werden verschlossen, um die Bahnhöfe nicht zu verschmutzen.
Bei dichtem Nebel, Wolken und Nieselregen erreichen wir am nächsten Morgen kurz vor neun Uhr den Bahnhof Kiew. Die gesamte Stadt ist in einen dichten Schleier gehüllt. Nichtsdestotrotz: Als erstes geht es natürlich die drei Stationen mit der Metro zum Chreschtschatyk – der zentralen Straße in Kiew – sowie dem angrenzenden Majdan, der durch die Proteste der Orangefarbenen Revolution Bekanntheit erlangte.
Von dort aus kann man zu Fuß viele Sehenswürdigkeiten erkunden. Wem der ein oder andere Weg doch zu lang ist, der kauft für 2 UAH (knapp 19 Ct.) einen Einzelfahrschein für die Metro oder nutzt die Busverbindungen.
Kiew ist eine herrliche Stadt. Der besondere Charme ergibt sich für mich aus dem Zusammenspiel slawischer Tradition, sozialistischem Klassizismus und neuen europäischen Akzenten. Zweiteres prägt das Erscheinungsbild besonders der mächtigen Gebäude im Zentrum der Stadt, deren Farbe am Abend durch die Beleuchtung des gesamten Chreschtschatyk von grau in warmes gelb wechselt. Bevor wir das allerdings genießen können, geht es in Richtung Norden zu Sophienkathedrale und Michaelskirche. Aus dem dahinter befindlichen Park wäre der mächtige Dnepro zu sehen, wäre er nicht am Vormittag durch dichten Nebel verdeckt. Etwas weiter nördlich beginnt der alte Stadtteil "Podil". Besonders auffallend: Ein ganzes Areal alter Gebäude, die durch die Sanierung in den letzten Jahren buchstäblich in neuem Glanz erstrahlen. Auf der gegenüberliegenden, der östlichen Seite des Flusses sind die Plattenbauten nicht zu übersehen. Sie prägen das Panorama hinter dem Dnepr - dieses Gebiet wurde erst im 20. Jahrhundert erschlossen. Durch die Parkanlagen, die sich auf den Hügeln am Ufer des Flusses befinden geht es zurück ins Zentrum, um dort Majdan und Chreschtschatyk in weihnachtlicher Atmosphäre zu genießen.
Im Weihnachtsgetümmel spazieren wir den Chreschtschatyk einmal hinunter und wieder hinauf um uns dann auf den Weg zurück zum Bahnhof zu machen.
Im Zug beziehe ich einen oberen Schlafplatz in einem Wagon mit 54 Plätzen. Gegen diese Art der Reise war die "3. Klasse" der pure Luxus: Die Betten hier sind schmaler und kürzer als jene im Kupé. Nicht nur, dass man die Beine nicht ausstrecken kann: Es gibt auch keine Möglichkeit, sich hinzusetzen, denn der Platz über dem Bett genügt mit etwa 60 cm nur zum Liegen. Empfehlenswerter sind also die unteren Plätze, die zudem mit dem Stauraum unter dem Bett verhindern, dass während der Nacht die Habseligkeiten den Besitzer wechseln.
Besonders angenehm ist die Ruhe am Morgen. Es sind nach dem Aufstehen noch drei Stunden bis zur Ankunft am Bahnhof. Einige Mitreisende schlafen noch, andere sitzen sich gegenüber, trinken Tee und erzählen. Ich klappe das Buch zu, weil ein Sitzplatz am Fenster frei geworden ist. Mit einer Tasse Tee und den letzten Keksen setze ich mich, schaue aus dem Fenster und versinke in tiefe Gedanken, während wir das Donezbecken durchqueren.

Da ich mit dem Bericht wieder spät dran bin, hat mittlerweile das neue Jahr begonnen. Auch in der Ukraine. Allerdings wird es hier etwas anders gefeiert: Für die meisten ist es in erster Linie ein Familienfest. Es wird viel gekocht, gebacken, gegessen und gefeiert. Und es gibt Geschenke. Dadurch verliert das orthodoxe Weihnachten, was erst an diesem Donnerstag in den Familien mit gemeinsamem Essen eingeleitet wird, etwas an Bedeutung.

Eines ist allerdings genau wie in Deutschland: Zum Jahreswechsel geht man um Mitternacht auf die Straße; man jagt jede Menge Knallkörper in die Luft und wünscht sich gegenseitig und für sich selbst viel Gesundheit und ein erfolgreiches neues Jahr.

Und so wünsche ich auch den Lesern des Blogs einen guten Start in das Jahr 2011, Gesundheit,
neue Erfahrungen und Zeit, sie zu genießen. З Новым Роком!